Teil 1
Seit etlichen Jahren machen mein Jöwes und ich eine Städtereise. Nur wir beide. Herrlich.
Dieses Mal soll es nach Vilnius, Litauen gehen. Ich hab überhaupt keine Vorstellungen und kenne lediglich den guten Wodka, den Freund Girius immer mitbringt.
Hier nun ein kleiner Reisebericht. Nein, erwartet bitte keine Sightseeingtour. Dies ist wie immer eine Mischung aus Beobachtungsgabe und Mitteilungsbedürfnis. ;-)
Ok. Die Nachbarin fährt mich zum Bahnhof. Und weil ich mich so abgehetzt hab, hab ich jetzt schon das Gefühl, ich fahr los wie ein Frisör. (Ich entschuldige mich bei allen Frisören dieser Welt. Das sagt man halt so und bedeutet: Ich bin nur mit Kamm und Schere bewaffnet unterwegs;-) Aber wenn man ne Kreditkarte, Ausweis und die Tickets hat...was soll schiefgehen? Alles andere kann man kaufen.
Auf dem Weg zum Bahnhof fällt mir ein, dass Freundin- nennen wir sie hier aus Personenschutzgründen Michaela- auch mit diesem Zug zur Arbeit fährt. Ich schreibe ihr per WhatsApp: Falls du gleich auf dem Bahnsteig eine freundliche alte Dame mit einem bunten Koffer siehst: Das bin ich. Sie freut sich- oder tut zumindest so- und teilt mir mit: Ich sitze hinten beim Führer. Beim Führer. Soso.
Wir quatschen und lachen und die Zeit vergeht wie im Flug. Als sie aussteigen muss, bitte ich sie, noch ein Stück neben der Bahn herzulaufen. Und was soll ich sagen? Sie macht sich warm und rennt noch ein gutes Stück winkend neben der ODEG her. Ich lache herzlich. Und alle ringsrum auch. Später schreibt sie mir, dass sie ab sofort wohl immer eine Bahn früher nimmt, schließlich kennt man sich als zugfahrende Gemeinde. Da weiß sie mal, wie es mir immer geht, wenn ich unbedacht Dinge tue, die mir...aber meistens doch eher den anderen –hinterher peinlich sind.
Ab Schönefeld wird der Zug schlagartig leerer. Nein, nicht leerer. Ich bin die Einzige, die noch im Zug sitzt, denn ich will noch weiter nach Wünsdorf für einen Zwischenstopp. Der Zug steht noch 10 min. und ich werde ein ganz bissl nervös. Fährt der überhaupt weiter? Dann setzt er sich irgendwann in Bewegung und durch den Lautsprecher ertönt ein schnarriges: Nächster Halt: Flughafen Schönefeld. Noch einmal hebe ich meinen Kopf und schaue in alle Richtungen über die Sitze. Und siehe da: 3 Reihen vor mir schiebt sich ein blonder Schopf ebenso vorsichtig in die Höhe. Als sich unsere Blicke treffen, lachen wir erleichtert. Wie schön, dass Sie auch noch an Bord sind! rufe ich ihr zu. Und ich glaube, der Zugführer hat grad einfach den Ansagetext einen Ticken zu weit zurückgespult. Sie wirkt sichtlich erleichtert.
Am nächsten Tag: Wünsdorf- Berlin. Dort will ich mich mit Jöwes auf dem Hauptbahnhof treffen. Fast hätte ich den Zug verpasst, denn an der Tafel steht Gleis 2. Ein sichtlich erregter Reisender fragt durch die Luke im Stellwerk, von wo denn der Zug abfährt. Baaahnsteig 7, antwortet kaugummikauend die Blondine durchs Fenster. Aber die Leute stehen alle am Gleis 2! Die kriegen doch gar nicht mit, dass der Zug hier hinten steht! erbost sich der Herr. Schulterzucken. Er macht ein paar Schritte und brüllt in Richtung Wartende DER ZUG FÄHRT VON GLEIS 7!!!! Dann wieder durch die Luke, dass das doch wohl nich sein kann usw. Der Kaugummi antwortet gelangweilt: Is doch nich meine Uffjabe oder wat! Er -wirklich mit dicken Halsschlagadern: Na ick find schon! Sie hätten doch den Leuten Bescheid sagen müssen! Der Kaugummi: Na nu ham Sie et ja jemacht. Zack, Fenster zu. Eijeijei.
Ich weiß jetzt schon, dass ich mir am Hauptbahnhof noch ein Notizbuch kaufen muss. Solche Unternehmungen sind ja voll von Anekdoten und zu schade zum Vergessen, nicht wahr?
Im Zug auf der anderen Seite des Ganges sitzt sichtlich nervös eine Frau Mitte 50. Vor ihr auf dem 4er vier junge Herren. Nerds. Alle mit nem Laptop und mit Begriffen um sich werfend...OhGottohGott. Also DIE fahren zu ner Gamekonvention. Oder so. Alle 4 haben seit Jahren kein Sonnenlicht gesehen. Blassschnäbel. Und die Fingerchen so dünn, dass die Kraft vermutlich zum Zocken reicht, zum Brote schmieren aber schon nicht mehr.
Ich könnte die sicher zu meinem Buch befragen, das ich vorhatte zu lesen. Eins über Verschwörungstheorien. Die Kanzlerin ist Hitlers Tochter und die Erde eine Scheibe. Reptiloide, Reichsbürger, Chemtrails. Sowas. Da kennen die sich sicher aus. Aber ich komme nicht zum Lesen.
Die Frau Mitte 50 schiebt sich nämlich mit ihrem Gesicht irgendwann durch die beiden Sitze vor ihr. Also sie versucht es zumindest. Sieht gut aus. Vor allem die Gesichter der Nerds. Sagt mal, Jungs, kennt ihr euch hier aus? Die Jungs gucken sich an...und ich seh es hiner ihren Stirnen rattern. Hier? Wo hier? Hier hier? Ich könnte helfen mit einem: Ja, da vorn ist der Lokführer...da hinten die Toiletten. Aber die Gesichter der Jungs sind zuuu putzig. Sie hakt nach: Hält der Zug am Bahnhof? Ich will mich nicht einmischen mit einem: Na das will ich schwer hoffen, denn mit meinem Koffer hier spring ich nicht irgendwo auf offener Strecke ins Gleisbett! Ich genieße noch die Gesichter der Nerds. Wieder tauschen sie hilflos Blicke. Einer der 4, NOCH cleverer als die anderen 3: An welchem denn? So ein Fuchs. Am...aaach, wie heißt der denn...aaach, Mensch, wie heißt der denn...Hauptbahnhof. Aaaaah, erleichterte Minen. Jaaa, da hält der, bestätigen die Jungs, und eine Dame vor mir. Und ich sicherheitshalber auch. Und wie komm ich von da zum Zoo? Die Schaffnerin kommt gerade vorbei und wird am Rock festgehalten. Umständlich klappt sie oldscool eine große Karte aus. Derweil öffne ich meine Bahn- App und bin deutlich schneller. Mit der S- Bahn hat sie immerhin herausgefunden und die Frau vor mir ergänzt: S9. Und ich ergänze: oder S7. Die Jungs nicken. Schaffnerin: Eigentlich fahren da alle hin. Wohin? Na zum Zoo! Ach ja, ja, Danke.
Die Frau vor mir erlösend: Ich muss auch zum Zoo. Ich nehm Sie mit. Erleichterung. Bei ALLEN. Und da fühle ICH mich schon immer wie ein dummes Landei! ;-)
Am Hauptbahnhof stürze ich also erstmal in ein Schreibwarengeschäft. Ein Notizbuch kaufen. Puuh. Als Jöwes mir auf der Rolltreppe entgegen kommt bin ich doch erleichtert. Man weiß ja nie. Er ist da. Wir verstauen sein bissl Kram in meinem Koffer und brechen auf. (Und wieder hab ich das Gefühl, ich bin schlecht ausgestattet.)
Bevor wir jedoch Richtung Flughafen starten: Essen kaufen, Trinken kaufen, Pipi. Am Flughafen: Essen kaufen, trinken kaufen, Pipi. Man weiß ja nie. Koffer aufgeben, Sicherheitskontrolle...Trinken weghaun. Trinken neu kaufen. Pipi. 3,50€ ne Flasche Wasser. Sicherheit hin oder her: Abzocke.
Wir steigen als letzte in den Flieger. Ich versteh einfach nicht, warum die Leute sich so drängeln und ewig vorher am Gate anstellen, als könnten sie sich damit einen Platz im Cockpit sichern. Es haben alle einen gebuchten Sitzplatz! Ommm. Bis alle endlich sitzen...ich sag nix. Hinter uns sitzt jedenfalls ne Männertruppe. Kegelverein, Junggesellenabschied...irgend sowas. Brauch ich auch nicht mehr dazu sagen, oder? Ich beneide Joseph um seine Kopfhörer, die komplett sämtliche Nebengeräusche illuminieren. Zack, weg isser. Abgetaucht. Meine popligen Dinger vom Handy können leider nicht anstinken gegen die Fluggeräusche der Boeing 737. Waren Flugzeuge schon immer so laut?
Ich versuche zu lesen. Aber die gute Frau vor mir hat entweder ADHS oder Flugangst. Sie schmeißt die Haare, wühlt in ihrer Tasche, wird mehrmals von der Stewardess aufgefordert, sich doch bitte während des Startes hinzusetzen und angeschnallt zu bleiben. Bei jeder Bewegung habe ich Angst, dass ihr Stuhl auseinanderfällt und sie mir auf den Schoß kracht. Ommm. Ich will weder teuren Kaffee noch ein Parfum kaufen. Ich würd gern meine Beine einmal ausstrecken. Aber das ist ausgedacht.
Und doch heißt es nach überschaubarer Zeit: Anschnallen, wir befinden uns im Landeanflug. Waaas? jetzt schon? Joseph blinzelt verschlafen. Das waren doch keine 2,5 Stunden!? Die geglückte Landung feiert die Männergang wie ein frisch angezapftes Bier aufm Oktoberfest. Dabei schmeißen sie die Arme in die Luft, als säßen sie in der Achterbahn auf Talfahrt. Und da muss ich dann doch schmunzeln.
Sowie die Maschine steht, geht das Gerammel los. Alle springen auf, zerren ihre Koffer aus den Fächern und stehen dann mit schrägen Köpfen unter der Gepäckablage, weil im Mittelgang ja nur einer stehen kann. Bis wir wirklich aussteigen dürfen vergehen noch mal 10 min und ich schwöre, als Stewardess würde ich Elektroschocker einsetzen. Oder wenigstens nen Brüller loslassen. Ich bin froh, dass mir niemand die Zähne mit seinem Koffer raushaut und bleibe sitzen, bis die Schlange dünner wird.
Am Gate stehen sie ja dann doch alle wieder. Und an der Gepäckausgabe. Und am Taxi. Wir setzen uns erstmal draußen auf die Treppen. Vilnius. Puuh. Wir sind da.
Der Kusenk hat gesagt, die kosten genauso viel wie in Deutschland, und so nehmen wir uns ein Taxi. Man muss ja immer fair sein und das vorderste Taxi in der Schlange ansteuern, sonst schmeißen die anderen Taxifahrer Steine. Sonst jedenfalls hätte ich mich für einen vertrauenerweckenderen Kollegen entschieden. Rundes, slawisches Gesicht, alles gut. Aber die Kombination aus Glatze, aufgepumpten Armen und seinem finsteren Blick....uuuuuaaaaah.
Er tuschelt noch mit seinem Kollegen und wirft dann meinen Koffer ins Auto. Wir zeigen ihm die Adresse und schweigen fortan. Und atmen flach. Er hat einen...nennen wir es sportlichen Fahrstil. Nein, das ist schlecht formuliert. Er fährt wie ein aggressives Arschloch. Wenn er um die Ecken feuert, wedelt es uns auf dem Rücksitz von Links nach Rechts. Mehrmals lässt er fluchend alte Mütterchen und Mütter mit Kinderwagen sich lebensrettend auf den Bürgersteig hechten. Was für ein Idiot. Die letzten Meter müssen wir laufen und ich gebe ihm mit zittrigen Fingern 26,50€. Das erscheint mir äußerst üppig, aber ich werd ja wohl nicht mit so ner Maschine diskutieren. Wo sich mein Russisch auf den Wetterbericht beschränkt!
Unser Appartement ist auf dem Hinterhof einer Häuserreihe gegenüber einer süßen kleinen Kirche und neben einer kleinen studentischen Kneipe. Das Hoftor ist mit einer waghalsigen Tastatur gesichert. Mantas, unser Vermieter nimmt uns in Empfang. Sehr sympathisch. Aufgeschlossen und ...das Gegenteil vom Taxifahrer. Er zeigt uns das geschmackvolle Appartement und ich bin glatt ein bissl stolz, wieder so einen guten Riecher gehabt zu haben. Er gibt uns noch ein paar Tipps und verabschiedet sich.
Ich guck noch mal auf die Uhr und versteh es einfach nicht. Wir sind doch keine Stunde Taxi gefahren? Und dann erst schnallen wir beide, dass es hier eine Stunde später ist. Und deshalb kam uns auch der Flug nicht vor wie 2,5 Std. Es waren nur eineinhalb! Tzzz.
Wir machen uns bissl frisch und ziehen los. Sind ja nicht zum schlafen hier. Die Stadt ist wunderschön. Kirche an Kirche. Und die Bars und Restaurants! Ich hätte in jede reinrennen können, um ein Foto zu machen. Ehrlich! Wahnsinn!
Wir landen auf dem großen Platz vor der Kathedrale St. Stanislaus. Ist diiiie schön! Majestätisch. Säulen, die gefühlt bis zum Himmel reichen. Hier tummeln sich Skater, Touris, Einheimische. (Mein Sohn sagt zum ersten Mal: Ich hätte mein Board mitnehmen sollen. In den folgenden Tagen wiederholt er das noch an die 200x)
Die Sonne taucht den Platz in ein warmes Licht und lässt die Stadt noch beeindruckender erscheinen. Wir seufzen beide und fühlen uns...wie im Urlaub.
Bis sich der Hunger meldet. Wir wollen die litauische Küche probieren und suchen ein Restaurant aus, das besonders einladend wirkt. Und schön voll ist, denn man neigt ja dazu, sich eher in Restaurants zu setzen, die begehrt zu sein scheinen.
Es dauert ne Weile bis wir bedient werden. Und unser Essen bekommen. Wir entscheiden uns für Zeppelinas und Teigtaschen und eine Grillplatte und Bier und... Das ist soooo lecker! Ich hätte sterben können! Erst, weils so lecker ist, dann weils so fettig war. Ein Stück weiter klimpert eine Straßenmusikerin mit Löffeln auf einer Zitter. Keine Ahnung. Es waren sicher keine Löffel und auch keine Zitter. Aber es klang so und sah auch so aus.
Wir sitzen eine ganze Weile im Restaurant und beobachten die Leute...Ich liebe das. Und es gehört für mich zum Urlaubsfeeling. Stimmengemurmel, Musik, Gläser, die aneinanderstoßen. Ich hätte ja glatt noch etwas nachgeordert, aber wir werden nicht gefragt, ob wir noch etwas wünschen. Oder ob alles in Ordnung ist. Ich weiß nicht, ob das hier nicht üblich ist, aber auch an den darauffolgenden Tagen scheint das keinen Kellner zu interessieren. Sie gucken gekonnt über uns hinweg. Und so verlangen wir die Rechnung, trinken noch einen litauischen Wodka (der riiiichtig gut ist!!!) und bezahlen um die 27€. Dafür hätten wir daheim wohl das Doppelte hingelegt.
Wir trödeln in Richtung Appartement. Kehren aber unterwegs noch in einer Strandbar ein. Die Mucke, die die halbe Straße in chillige Atmosphäre taucht, der Beachsand, der bis auf den Bürgersteig schwappt...Da kann man doch nicht vorbeigehen!
Zwischen 2 Häusern tut sich eine Lounge auf. Sand, ein Holzsteg, über den junge Herren mit weißem Hemd, Hosenträgern und Fliege schicke Cocktails balancieren und an den kleinen Liegestühlen verteilen. Ein Lichtermeer oben drüber, an den Wänden fette Holzrahmen und Gardinen, die Fenster simulieren. Perfekte Illusion. Jaaaa...und da sitzen wir dann ein ganzes Weilchen und schlürfen Cocktails, die so viel kosten wie unser Restaurantbesuch. Aber das ist es uns wert. Wir reden gar nicht so viel. Lassen wirken. Genießen.
Irgendwann steht eine Frau mittleren Alters am Eingang, ein Prosecco- Glas in der Hand und schaut. Ich will ja nicht immer „lästern“, aber ihre durchaus preisintensive Garderobe sieht aus wie...Seidenschlafanzug und Kimono. Josephs Blick bleibt an ihr hängen und ich verstecke mein Grinsen hinter meinem Glas. Ich weiß, was er denkt...oooch und er spricht es auch aus. Die sieht aus, als wär sie ausm Hotelzimmer nebenan noch mal kurz rübergekommen: Und, was geht hier noch so?... Aaaach, ich geh ins Bett. Genau. So.
Zurück im Appartement stelle ich fest: Zahnbürste vergessen. Das ist mir ja noch nie passiert! Ich hatte es geahnt. Ok. Muss jetzt so gehen. Ich falle tot ins Bett.
Die senile Bettflucht treibt mich früh wieder raus. Das Kind schläft noch und so schleiche ich aus dem Haus. Finde ganz in der Nähe einen Supermarkt und ergattere frische Brötchen und Jippiiieh! eine Zahnbürste. Als ich wiederkomme steht Jöwes vor dem Spiegel und mustert seine Frisur. Die Haare gehören nicht zu mir! Ich muss lachen. Jaaa, das dachte ich vorhin auch. Einen Tausch lehnt er jedoch dankend ab. Er wirkt zerknirscht, meint, er hätte schlecht geschlafen. Ich nicht, obwohl ich so aussehe. Hab Tränensäcke wie Horst Tappert. Anscheinend macht der Körper auch Urlaub und lässt sich gehen. Oder es ist eben doch ein Jetlag. Immerhin ne Stunde.
Und dann erstmal: Zähne putzen. So ne Zahnbürste is ne echt geile Erfindung! rufe ich durch die Badtür... Und jetzt...etwas frischer im Kopf erkenne ich das Foto auf dem Duschbad, das ich abends noch angewidert weggestellt hab. Margarita. Das Foto bestätigte meinen ersten Impuls: Wer will denn schon nach Pizza riechen?! Jetzt seh ich: Ach, das soll wohl ne Bienenwabe sein. Tzzz.
Im Nachbarhaus übt jemand E-Gitarre und umrahmt musikalisch unser Frühstück. Herrlich. Ist ja nicht dauerhaft mein Nachbar. Und er spielt nicht schlecht. Guns `N Roses hoch und runter. Geige im Anfängerstadium wäre echt schlimmer.
Draußen ist es warm. Richtig warm. Ein Blick in den Koffer bestätigt noch einmal: Ich bin unterwegs wie ein Frisör. Jooooseph! Ich hab nix anzuziehen! Er leiert mit den Augen und starrt in den vollen Koffer. Ok. Jeanskleid, bunte Leggins...Turnschuhe. Die passen nicht zur Leggins. Aber: Mich kennt ja hier keiner. Das soll dann der Satz der Sätze für unseren gesamten Aufenthalt werden. Auf 26Grad bin ich nicht vorbereitet. Und die dünne Hose kann ich nicht tragen, weil ich den Gürtel vergessen hab. Was war denn nur los mit mir? Wir beschließen, bei Gelegenheit shoppen zu gehen.
Gegen Mittag sind wir endlich fertig zum Aufbruch. Wir amüsieren uns über das Schloss an der Wohnungstür. Man muss 5x schließen. Das satte Geräusch dabei erinnert an eine Gefängniszelle. Die Bolzen schießen nicht nur seitlich in die Wand, sondern auch in die Erde und nach oben. Versteh ich nicht, meint Jöwes, wenn einer einsteigen will nimmt er einfach ein Fenster. Stimmt, die Fenster sind ebenerdig und kein Hindernis. Und guck, sagt er, im besten Fall muss er nicht mal ne Scheibe kaputt machen. Tatsache. Hab ich doch glatt das Fenster weit aufgelassen. Ich könnt mich vor Lachen schon wieder kringeln. Also noch mal Fort Knox aufschließen, Fenster zu, Fort Knox abschließen und los.
Verdammt. Den kollektiven Frühsport haben wir wohl verpasst. Vorm Rathaus ist man mitten in der Abschlussübung.
Wir haben ein grobes Ziel. Gediminas Tower. Auf dem Weg dorthin spült es uns immer wieder in eine der Kirchen. Eine der schönsten ist die St. Annes Church. Hier findet gerade eine Trauung statt und ich frage mich, warum man nicht für die Zeit die Türen schließt. Die Touris rennen trotzdem rein und raus und stören die Zeremonie. Finde ich zumindest.
Immer wieder streifen wir den riesigen Platz. Immer wieder machen wir dort Pause. Mein erstes Eis hau ich mir direkt aufs Kleid. Glückwunsch. Ich kriege es halbwegs sauber und sage wieder: Mich kennt ja hier keiner.
Irgendwann ist mir stark danach, mich in einen Brunnen zu werfen. Aber es gibt keine. Und da fällt es mir auf. Es gibt keine Wasserspiele wie sonst in den Altstädten. Und auch Blumen und Parks...Nicht wirklich. Joseph, lass uns doch mal die Bank da ansteuern. Ich muss jetzt Ballast abschmeißen, sonst dreh ich durch. Etwas abseits vom Trubel versuche ich möglichst unauffällig meine Leggins auszuziehen. Und die Schuhe. Mich kennt doch hier keiner.
Die ersten 5 Meter sind wie eine Befreiung. Ein leichter Luftzug umweht meine Beine. das trau ich mich seit Jahren nicht mehr. Aus gutem Grund: Ein Blick nach unten lässt mich fast aufschreien. Der letzte Knopf des Kleides ist doch einen Ticken zu hoch. Und der kühle Luftzug...Ich hab das Gefühl, man sieht fast die Unterwäsche. Nee Jöwes, das geht ja wohl GAR NICHT! Und schon strebe ich die nächste Parkbank an, um mir unauffällig die Leggins wieder überzustreifen. Als ich erneut sage: Mich kennt ja hier keiner raunt mein Sohn sowas wie: Na inzwischen schon. Tzzzz.
Wir erklimmen die Burgreste, besuchen Museen, Kirchen, trinken Bierchen, essen Pizza. Aufs Shoppen haben wir keine Lust mehr. Zu H&M kann ich auch in Berlin gehen und Dolce& Gabbana sprengt mein Budget.
Es ist so furchtbar warm! Meine Hüftgelenke kreischen Auuuaaaa! 11 km sind wir gelaufen, sagt Josephs App. Bei Kilometer 13 schleppe ich mich in eine Apotheke und kaufe mir Ibuprofen. Bei Kilometer 14 kaufen wir in einem Supermarkt Bier und Schoki. Erfolglos suchen wir nach einem Park und lassen uns auf einer Art Grünfläche nieder. Boah. Schnipsen und daheim sein... Kennt ihr die App? Sie zeichnet deine Bewegungen auf. Großartig. Und nein, wir waren nicht betrunken und/ oder orientierungslos!
Als ein Gewitter aufzieht trollen wir uns in Richtung Appartement. Kurz die Beine hochlegen, duschen und wieder los.
Auf unserer Tagestour hatten wir ein uriges Restaurant namens Gabi entdeckt und fürs Abendessen abgespeichert. Der Innenhof ist gemütlich, das Restaurant selbst der Hammer! Leider ist das fotografieren verboten. Ich bestelle wieder die Zeppelinos und das hauseigene Gabi- Bier. Als der junge Kellner kommt und uns die Getränke reicht verstehe ich Genuschel und Goebbels. Ich werfe meinen Kopf rum: Goebbels???? Er guckt ängstlich und mein Kind ist sichtlich peinlich berührt. Mama! Er dreht meinen Kopf zurück und bedeutet dem Kellner: Alles gut, Sie können gehen. Der hat doch was gesagt von German und Goebbels? zische ich und muss aber schon lachen. Neiiiiin! Hat er nicht. Er hat Gabi’s komisch englisch betont. Hmmm, hätte ja sein können, dass man uns hier nicht mag.
Ich schaffe beim besten Willen nicht alles, was auf dem Teller liegt und auch Jöwes lässt sich nach hinten fallen. Boah, morgen machen wir aber mal einen fleischlosen Tag! Ich gucke auf meinen Teller: Das Essen ist echt schwer und fettig. Aber soo viel Fleisch war das doch jetzt nicht. Nur ein Würstchen. Er zieht die Augenbrauen hoch. Jaa...und das Kartoffelding ist mit Gehacktem gefüllt. Und obendrüber ist Speck. Jaaa, gut. Morgen also vegetarisch.
Wir sitzen ewig dort und reden. Wann kommt man sonst dazu?
Ich verreise am allerliebsten mit meinem Sohn. Wir streiten nie, lachen viel, quatschen dusselig und reden ganz intensiv, haben zeitgleich Hunger und Durst oder Appetit auf ein Eis. Interessieren uns für die selben Dinge. Lassen im richtigen Moment die Seele baumeln. Ich wünsche mir sehr, dass das noch lange so bleibt.
Und weil der Kellner inzwischen alle Tische um uns rum abgeräumt hat bestellen wir noch einen litauischen Wodka und schlendern heimwärts.
Ende Tag 2. Und Ende Teil 1. Fortsetzung folgt. Falls ihr mögt. ;-)