Da muss ick ma nachn Arzt mit hin

Wartezimmergedanken. Zwischen Langeweile und Hypochondrie.

Da muss ick ma nachn Arzt mit hin.

...sag ich seit geraumer Zeit ganz im Brandenburger Slang. Vor 4 Monaten bereits hätte ich meine Untersuchungsergebnisse erfragen sollen. (Nein, nix Schlimmes. Nur Alterserscheinungen. ;-)

Geschafft hab ich´s dann doch nicht. Ich überlege 5x, ob es wirklich nötig ist. Und 10x, wann ich am besten starte, falls es dann doch mal nötig ist. Welchen Tag würd ich mir denn am ehesten mit einem Arztbesuch ruinieren?Wann geht man am besten zum Arzt, um nicht Stunden dort zu vertrödeln?

Auf keinen Fall montags. Da kommen alle, die am Wochenende erkrankten und nun einen Krankenschein brauchen. Weil so aber viele Leute denken und lieber erst am Dienstag in die Praxis stürmen, fällt der Dienstag natürlich auch aus. Freitags kommen alle die, die am Montag krankgeschrieben wurden und am Endeder Woche noch mal vorstellig werden sollen, „falls es noch nicht besser ist.“ Also bleibt der Mittwoch und gegebenenfalls der Donnerstag. Wobei da ganztägig Blutentnahmen durchgeführt werden...was sonst nur bis kurz vor halb 9 möglich ist. Also ist der Donnerstag auch bissl riskant.

Und wichtig: Bloß nicht so früh lostoben! Ich verstehe ja immer nicht, warum sich Leute ne Stunde vor der Sprechstunde vor die Tür stellen, um als erster, zweiter oder gar doch schon nur siebter dranzukommen. Wartet man lieber ne Stunde stehend in der Kälte, als ne Stunde sitzend im Warmen? Ich hab keine Ahnung.

Sie sehen...ich tue mich schwer. Und dann raffe ich mich endlich auf und denke: HEUTE! Stell mich unter die Dusche, mal mir ein Gesicht an, packe Getränke, Kekse, Buch und Brille ein, um mich für einen längeren Aufenthalt zu wappnen und an der Haustür erfasst mich eine Vorahnung. Also ruf ich vorsichtshalber bei meinem Hausarzt an. Ist ja auch nicht grad um die Ecke. Der AB springt an. Heute und morgen bleibt die Praxis geschlossen. Ich weiß nicht, ob ich mich ärgern soll, dass es so ist, oder froh sein, dass meine Intuition so verlässlich ist. Aber sie hätte mich auch schon vor dem Badezimmermarathon warnen können!

Ok. Zweimal habe ich in den letzten Wochen so Anlauf genommen. Um mich wieder auszuziehen und das Ganze zu verschieben.

Letzte Woche: neuer Anlauf. Anruf in der Praxis: Ja wir sind da. Ok, dann drohe ich hiermit meinen Besuch an. Ich fahre nicht so früh los, um den Blutabnahmepatienten aus dem Weg zu gehen und weil ich hoffe, dass der erste Schwung bereits abgefertigt ist. Halb 10 ist ne prima Zeit...Haaaach... Der Parkplatz verheißt nix Gutes.

9.50 Uhr

Das Wartezimmer ist brechend voll. Ich stelle mich an, um mich hinter der Glastür an der Rezeption zu melden und gehe dann zurück in den Wartebereich. Exakt ein Platz an der Wand wird gerade frei. Zack. Meiner.

10.05 Uhr

Ich versuche, meinen Stuhl in eine Position zu bringen, bei der sich meine Ellbogen so wenig wie möglich an denen der Sitznachbarn reiben. Schwierig bis aussichtslos. Dann schaue ich in die Runde. Ich kenne niemanden. Nur die Mutter einer ehemaligen Schulfreundin sitzt in der Mitte des Raumes an dem kleinen runden Tisch, an den ich mich nie setzen würde, weil das immer ein bissl wie ne Bühne wirkt. Du sitzt sozusagen auf dem Präsentierteller. Wir nicken uns kurz zu und lächeln.

10.10Uhr

Die Luft ist dick und ich kann förmlich die Keime durch den Raum wabern sehen, die ein junger Mann beherzt aus sich heraus hustet. Ich atme flach. Jedes Mal, wenn die Tür aufschwingt kommt Frischluft hereingeweht. Aber ich kann mich nicht durchringen, diese kräftig einzuatmen. Immerhin sind auch die Bazillen des Hustenbärchens in der Brise. Brav sagen alle kollektiv: Guten Morgen. Oder: Auf Wiedersehen. Ich muss mir ein Kichern verkneifen und würde nur zu gern mit den Chormitgliedern an der Synchronität arbeiten. Es klingt doch mehr wie eine Laola- Welle und ist definitiv ausbaufähig.

10.15Uhr

An der Einrichtung hat sich so lange ich hier zum Arzt gehe, nichts verändert. Doch, vor Jahren kamen mal so Wandtattoos mit nem Zitat dazu. Ach und das kleine Regal in der Ecke ist neu. Da liegen jetzt die Apothekenrundschauen, die sich sonst immer auf dem kleinen runden Tisch in der Mitte stapelten. Danach kann ich auch nicht greifen. Haben vor mir schon zu viele andere Menschen getan... Zu groß die Gefahr, sich irgendwas einzufangen. Da hat man nurn steifen Hals und schleppt Meningo-, Strepto-, Staphylokokken mit heim. Oder nen Norovirus. Wer will das schon? Habt ihr schon mal mit nem steifen Hals zeitgleich gehustet und erbrochen? Also bitte. Oder sind das schon autistische Züge?

10.30Uhr

Ich hole mein Buch raus. Wann kommt man sonst schon zum Lesen? Oder besser: Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? Mein Lesezeichen fällt scheppernd auf den Boden. Eine Gabel. Eine Gabel? Oh Mann, ich muss sie in Eile gestern Abend zwischen die Seiten gesteckt haben, als das Abendessen serviert wurde...Echt. Dabei erregt man hier schon mit weniger Lärm reichlich Aufmerksamkeit. Einen Moment überlege ich, ob ich mich mit der Gabel am Rücken kratze, jetzt, wo eh alle zu mir gucken. Ich verkneife es mir und lasse sie wieder in den Untiefen meiner Tasche verschwinden. Der junge Mann mit dem Husten schnäuzt sich immer mal. In ein großes Stoff-Herren-Taschentuch. Nach dem 10.mal denke ich anerkennend: Wow. Da scheint mehr reinzugehen, als in eine gute Babywindel.

10.45Uhr

Ich lese zum 10.mal den selben Satz. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Neben mir atmet eine korpulente Frau hörbar ein und wieder aus. Dabei scheint in ihrer Nase immer etwas...Rotz mit hoch und runter zu schwingen. Es blubbert förmlich. Notiz an mich selbst: Herpescremé aufschreiben lassen.

Ein Pärchen auf der anderen Seite flüstert extremst leise. Ich verstehe, dass man sich hier nicht lautstark unterhält. Aber dieses Wispern tut mir fast in den Ohren weh. Mein Wunsch nach leiser Hintergrundmusik wird wieder wach. Und verstärkt sich enorm, als mein Magen anfängt zu grummeln. Da geht es mir nicht allein so. Die ältere Dame schräg gegenüber übertönt mein Gerumpel. Könnte man nicht leise Musik laufen lassen? Jeder ist peinlich berührt, traut sich kaum zu atmen, zu reden, zu knurren. Oder gar zu blubbern.

11.00Uhr

Der Herr neben mir schielt in mein Buch. Ich finde es auch immer spannend, was andere so lesen. Meiner Schwester ging das damals so dermaßen auf den Keks, wenn ihr in der Bahn die Leute mit ins Buch oder aufs Cover starrten, dass sie sich irgendwann einen Umschlag bastelte, auf dem stand: Handbuch für Lesben. Fällt mir grad so ein. Leider kann ich nicht erkennen, was der Herr neben mir liest. Seitdem ich ne Lesebrille brauch, bin ich froh, wenn die Buchstaben in meinem eigenen Buch klar und deutlich sind. Aber was ich erkennen kann ist, dass er noch immer auf Seite 11 ist. (jedenfalls irgendwas mit ner 1 vorne....wie gesagt, ich guck nich mehr so gut). Entweder kann er sich auch nicht konzentrieren, oder er liest seeeehr langsam. Immerhin war er schon vor mir da. Vielleicht ist es auch schwere Kost, die er da liest, denn zwischendurch seufzt er laut.

11.10Uhr

Er hat umgeblättert. Was aber langsam nervt: Er kratzt sich permanent am Ellbogen. Entweder will er bissl Körperkontakt zu mir, oder er hat ein Exem, trockene Haut, oder nen Tick. Soll ich ihn fragen, ob er deshalb hier ist? Wenn er verneint, sag ich ihm, er soll es trotzdem unbedingt ansprechen, wenn er gleich dran ist. Könnte schließlich alles sein.

11.15Uhr

Noch 2 Leute vor mir. Jemand kommt mit nem Urinbecher aus der Rezeption und verschwindet im Klo. Man hört, wie der Herr den Schlüssel rumdreht, den Klodeckel hochklappt, der Reißverschluss aufgezogen wird. Dann plätschert es....ein kleiner abgehender Wind...dann wieder der Reißverschluss, Wasserhahn, Klospülung, Schlüssel. Schön. Ob ich hier schon mal zur Toilette war? Was denkt ihr?

Der Herr neben mir wird aufgerufen und klappt sein Buch zu. Ich sehe auf dem Cover einen hellblauen Drachen. Sehr phantasievoll. Episch. Da er eigentlich eher aussieht wie ein Geschäftsmann vermute ich, dass er es mit den Covern seiner Bücher so hält wie meine Schwester. Also ICH war ehrlich irritiert.

11.20 Uhr

Die Mutter meiner Schulfreundin kommt raus und und meint warnend, während sie ihre Jacke vom Garderobenständer fischt: Werd bloß nicht alt! Dabei dachte ich, ich bin längst zügig auf dem Weg. Ich mein so: Nee nee, ich bin nur hier, um mal ein paar Dinge anzumerken. Ein schalldichtes Klo, Frischluft und n kleines Radio. Sie lacht. In welcher Krankenkasse bist DU denn, dass du solche Ansprüche stellen kannst! Da hat sie wohl recht. Man soll sich ja nicht sooo wohl fühlen. Ist schließlich nur n Arztbesuch. Nicht auszudenken, es wäre gemütlicher als daheim! Dann würde man 3 Tage Urlaub nehmen müssen, um sich einmal abhorchen zu lassen.

11.30Uhr

Ich bin dran!!!! Zumindest werde ich schon mal ins Sprechzimmer geschickt. Das heißt ja noch nix, ge? Nebenan wird noch jemand behandelt. Dann bekommt noch wer ne Impfung, die Hauskrankenpflege bespricht am Telefon den Blutdruck von Patient x usw. Aber dann geht’s los. Ich trage meine Sammelmängelliste vor, weil ich wie gesagt schon ne Weile nicht da war. Das, das und noch ein Rezept bitte für...Ich bin sehr zufrieden mit meinem Arzt und fühle mich sehr gut aufgehoben. Muss man ja mal sagen, ge? Da ist die unschöne Wartezeit fast verflogen.

12.02Uhr

Fertig. Schleiche mit gesenktem Kopf durchs Wartezimmer, in dem noch immer 3 Leute sitzen. Die können nicht wissen, dass nicht ICH die ganze Zeit den Arzt aufgehalten hab! Ich nuschel ein: An mir lags nicht und husche aus der Tür. Schließlich will man ja keine Steine an den Hinterkopf kriegen. Wo ich doch kein Blut sehen kann. Wobei....wenn ich mich hier draußen auf die treppe setze wäre ich die erste zur Nachmittagssprechstunde. Ich Fuchs!