LaStrada- Italienische Mode

Eine filmreife Lebensgeschichte...und eine kleine Liebeserklärung an zwei wunderbare Neu- Neuruppiner

La Strada

Oh. Mein. Gott. Der Laden hat längst geschlossen, als ich nach einem 4einhalb- stündigen Interview aus der Tür wanke. Mein Hirn ist Brei. Hätte ich kein Image zu pflegen, würde ich mich jetzt ein Stündchen in eine Toreinfahrt legen und die Augen zumachen. Aber der viele Kaffee würde mich eh nicht zur Ruhe kommen lassen und so fahre ich ferngesteuert Richtung Heimat.

Ich wusste, dass die Geschichte der beiden Verrückten „Neu- Neuruppiner“ bunt und umfangreich wird. Ich wollte sie unbedingt hören und euch weitergeben. Und ich musste nicht betteln. (Aber ich hätte es getan!) Vorweg: Ingo und Benoit sind eine Bereicherung für die Stadt. Und mehr. Für jeden, dem sie begegnen. Mit Sonne im Herzen, einem ansteckenden Lachen und dieser herrlichen Berliner Schnauze hüllen sie nicht nur deinen Körper in neue Klamotten, sondern wärmen auch deine Seele. Und shoppen wird zum EVENT.

Aber von vorn. (Ich versuchs. ;-)

Auf sie gekommen bin ich durch Freundin Anja, die über die Beiden, bzw. deren Veranstaltung, einen MAZ- Artikel schrieb. Katrin, du musst mitkommen! schwärmte sie. Die sind der Hammer! Und dann fuhren wir also nach Neuruppin in den Hangar und sahen eine Modenschau, die denen der Großen in nichts nachstand. Die Models aus der Region, coole Mucke, echter Laufsteg, das Publikum drum herum am Johlen und Applaudieren. Geil.

22 Mädels liefen auf. Und- was ich eine geniale Idee fand- ein Fußballverein aus nem Nachbardorf. Junge Typen präsentierten da cool bis schüchtern Männermode. Bei einem kurzen Plausch während der Aftershow- Party stand für mich fest: Die Jungs musst du dir kaschen. Wie kommt man Bitteschön darauf, hier in der Pampa so was aufzuziehen, seine Zelte in Berlin abzubrechen, wenn man dort einen angesagten Laden im Prenzlberg hat und auf den großen Laufstegen unterwegs war????

Und dann hab ich sie einfach mal im Laden besucht. Und war verliebt. In die herzlichen Jungs und in die geilen Klamotten. Meine Augen kreisten immer wieder wie bei einem Irren an Ingo und Benoit vorbei. Die Konzentration fiel mir schwer. Es sollte ja nicht auffallen. Und schließlich war ich nicht zum Geld ausgeben hier. Aber stellt euch vor, ihr sollt der Bundeskanzlerin zuhören, während hinter ihr ein Nackter auf nem Einrad balanciert. Jaaa, genau ;-)

Bei einem Espresso fing Ingo jedenfalls sofort an zu reden...ich musste ihn immer wieder ausbremsen, denn heute wollte ich einfach nur die Idee setzen und bestenfalls einen Termin rausholen. Den hab ich sofort bekommen. Und ne Sonnenbrille, zu der mein Sohn später bewundernd meinte: Heeeeeey, fashion- girl! Na mehr geht nicht.

Ich wusste vorher nicht, ob ich einfach nur den Laden vorstelle, oder auch ein bissl aushole, um euch die Lebensgeschichte grob zu umreißen. Es ist ne Mischung geworden. Biographie und Werbung. Aber ich konnte einfach nix weglassen! So denn: Lehnt euch zurück. Ich bin mir sicher, Ingos Geschichte wird irgendwann verfilmt. Ihr könnt dann sagen: Den kenn ick!

Yes.

Los gehts.

Gestern also unser Termin. Als ich den Laden in der Neuruppiner Innenstadt betrete, freudiges Hallo! Benoit und Ingo beraten gerade 2 ältere Damen. Ich bekomme einen Kaffee und beobachte das Schauspiel. Nach 10 min. rutsche ich angenervt auf meinem Stuhl rum. Nein, so viel Geduld hätte ich nicht. Im Leben nicht. Die beiden sind relaxt, holen das 10. Teil an die Kabine. Warte mal, mir fällt noch wat ein! Und zack, holt er Teil 11. Benoit sagt irgendwann mit seinem wunderbaren französischen Akzent: Iiisch gebe es auf. Ingo tröstet die Ladies: Kommta im Herbst einfach wieder rin! und geleitet sie aus der Tür.

Ich würde durchdrehn, gebe ich zu. Nee, mir macht dit Spaß. Die kommen öfter mal. Und jetzt sind einige Größen natürlich vergriffen, wat willste machen? Immer wieder werden wir von Kundschaft „gestört“. Und tatsächlich finde ich irgendwann Gefallen an dem Spiel. Wir beraten, geben unsere Meinungen ab. Ich zettel bei einer Dame eine Abstimmung an. Arm hoch für Overall 1! Herrlich. Und ALLE Kunden erzählen. Von der Hochzeit, wo sie eingeladen sind, von ihrem letzten Urlaub... wie beim Frisör. nee, wie beim Lieblingsitaliener, wo jeder das Gefühl hat: Wir sind janz dicke. Ich sag ja, hier gibt’s mehr als Klamotten. Das haben die Kunden längst erkannt.

So. Nun aber. Ingo! Erzähl! Und Ingo erzählt. Dass er mit 3 Geschwistern in einem kleinen Dorf bei Trebbin aufgewachsen ist. Mit viel Landwirtschaft. Ich bin das erste Mal überrascht. Waaaas? Ich dachte, er kommt aus ner Großstadt. Ausm Westen. Berlin. Frankfurt. München. Neee. Kliestow.

Vater war Heizer in einer Gärtnerei, Mutter daheim bei den Kindern. Dit war natürlich furchtbar für uns. Er lacht schallend. Hab erst später begriffen, wat die Frau jeleistet hat. 4 Görn, alle nur ein Jahr auseinander. Die musste janz schön wat aushalten!

Um die Familie durchzubringen hatten die Beckers auch daheim ein Gewächshaus und wie damals nicht unüblich: Erdbeer-, Spargel-, Gurkenfelder...Schweine, Hühner. Zum Leidwesen der Kinder in nem etwas größeren Stil als eben üblich. Wenn meine Kumpels damals fragten: Kommste mit baden? Hab ick jesacht: Nööö, fahrt mal. Und er betont es, als hätte er was Besseres vorgehabt.

Als Kind wollte Ingo immer im Zoo arbeiten. Und dann hieß das ja plötzlich nich mehr Melker, sondern Zootechniker! Das wollte ich werden. Und plötzlich hatte ick Kuhärsche vor meiner Nase! Er macht eine abwertende Handbewegung und ich könnt mich schon wieder kringeln. Halb 3 uffstehn, 10 Wochen kein Frei! Dit war doch fuuurchtbar! Nach der Arbeit warteten 300 Hühner auf seiner „Farm“. Aber: 500 Mark die Woche brachten die Eier ihm ein.

Aber eigentlich wollte er raus aus der Landwirtschaft. Bewarb sich als Materialverkäufer in Ludwigsfelde. Hat aber nicht jeklappt. Du dit war schwierich zu Ostzeiten! Ich bekam ein Angebot fürn Zoo, aber jetzt wollte ick ooch keene Affen mehr füttern. Mit einer Art „ärztlichem Attest“ gings dann doch, zwinkert er mir zu. Ich sollte dann als Agitator bei der GPG anfangen. Ich gucke dämlich. Was? Er lacht schallend. Jaaa, so hab ick ooch jekiekt. Na Agitator kennste? Klar. Musste immer einer in der Schule gewählt werden. Schrecklich. Wandzeitungen basteln. Jenau. Und dit sollte ick machen in der GPG (Gärtnerische Prod. Genossenschaft) Ach du meine Güte. Na ick hab anjefangen da, aber die haben schnell erkannt: Dit jeht ja wohl jar nich mit dem! Und wieder lacht er laut. Man versetzte ihn in die Gerberazucht. Nur Weiber da...Aber ick hab ma wohljefühlt.

Dann kam mal n Mädel mitm Motorrad anjefahrn...und noch n Typ mitm Lada...Na wie jeht´n dit? Dit hieß ja zu Ostzeiten, man hat Jeld. Und da erkundigte ick mich, wat die so machen und beide hatten ne private Gärtnerei. Ingo war baff und befand: Dit will ick ooch.

Er stellte den Kontakt her und fing an, mit der Motorradlady Chrysanthemen zu züchten. 60.000 Stück. Plus Kohlrabi und Blumenkohl. Chrysanthemen kann ich heute noch nicht leiden. Bekam ich immer zum Geburtstag. Weil es nichts Anderes gab. Jenau, bestätigt Ingo. Wir haben die immer in Berlin Lichtenberg am Bahnhof verkooft. Du kannst dir dit nicht vorstellen: Ick konnte die Kohle jar nicht ausjeben!

War ne bewegte Zeit, würde ich sagen. 8 Stunden in der Gärtnerei, Blumenzucht und –verkauf, und viel unterwegs dazu. Ick war der Hans Dampf in allen Jassen, mein Vater hat immer jesagt: Junge, haste schon mal in´Spiegel jekiekt? Ick muss wohl mehr tot als lebendich ausjesehn haben.

Wegen meiner großen Klappe wollten die Chefs mir immer eine reinwürgen. War mir aber egal. Auf ihre Kohle war ich nicht angewiesen. Die Sch...reichte ja nich mal zum tanken!

Oh Mann, ihr müsstet ihn sehen, wenn er erzählt. Das ist so irre! Ich kann das hier gar nicht alles wiedergeben. Schon gar nicht seine Mimik und Gestik...es ist einfach nur ...geil.

Aber weiter. 1987 lernte er in einer Disco seine heutige Exfrau kennen. Die war aus Berlin und arbeitete an der Staatsoper. Was er erst nicht wusste: Sie hatte die Ausreise beantragt. Ingo zog zu ihr nach Berlin. Endlich weg aus dem Dorf. Das wollte er schon längst. Nein, schon immer. Ick wurde von einem Tag auf den nächsten erwachsen, erzählt er rückblickend. Mit diesem Wissen, sie (Dorothea) könnte plötzlich weg sein und der Angst, bespitzelt zu werden. 12 Stunden gab man den Ausreisewilligen Zeit, wenn die Genehmigung kam. Und so lebte er in ständiger Angst.

Seine Versetzung aus dem Blumenladen, in dem er nach seinem Umzug nach Berlin arbeitete, in einen nächsten schrieb er der Stasi zu. Aber die neue Chefin war cool. Meine erste Begegnung mit ihr sah so aus, dass sie morgens den Laden betrat nach einer durchzechten Nacht und meinte: Kinder, is mir schlecht. Um sich dann geräuschvoll zu übergeben.

Ingo und Dorothea mussten umziehen. Spät am Abend fing es pünktlich an zu piepsen an der Wand, der Nachbar Polizist, da war schnell klar: Wir werden abgehört. Freunde traf man nur noch außerhalb der Wohnung.

Als man Ingo zur Armee einziehen wollte - Man hatte Schiss, dass ich auch rüber will-, nahm er Kontakt zu Manfred Stolpe auf. Ingo schaffte es damals nur in das Vorzimmer des damaligen Kantors, aber man half ihm und er wurde nicht eingezogen. Irgendwie jerieten wir dadurch zu Kirchentreffen und in die Widerstandsbewegung. Man traf sich zum Austausch mit Leuten, die schon ausgereist waren und inzwischen zu Besuch wieder einreisen durften.

Und plötzlich bekam Dorothea ihren Bescheid. Das war ne riiiesige Liste, die de plötzlich abarbeiten musstest! In 12 Stunden!!! Sämtliche Ämter mussten anjerannt werden. Fehlte nur ein Stempel, wars das! Auch Ingo musste ja die Wohnung räumen, rief Freunde an, verteilte sein Hab und Gut. Ick seh uns noch zum Bahnhof hetzen, klatschnass geschwitzt, fix und fertig... sie stieg in den Zug...Tschüß und weg war se.

Ingo zog wieder aufs Dorf zu den Eltern. Glückwunsch. Welcome back.

Seine erste Anlaufstelle war der Pfarrer. Ich brauche einen Job, teilte er dem mit. Der Pfarrer hätte ihn gern eingestellt, konnte ihn aber nicht bezahlen. Ingo winkte ab: Jeld hab ick. Ick brauch nur nen Job.

Und so fing er als Friedhofsgärtner an. Richtete den alten Soldatenfriedhof her und erzählt von den alten Damen, die mit nem Likörchen an den Gräbern saßen und ihm Stück für Stück von der Entstehung dieses Friedhofes berichteten. Dass sie damals (46/47) von den Russen verdonnert wurden, die Gräber auszuheben für die, die im Lazarett verstorben waren. Wie regelmäßig eine Marschmusik aufgedreht wurde, wenn man dort Amputationen vornahm. Dass immer 8-10 Tote in ein Loch kamen... Ingo könnte ausholen und ist sichtlich bewegt. Aber das wäre noch mal eine eigene Geschichte.

Er stellte - wie geplant- auch einen Ausreiseantrag. Wegen Heirat. Ich weiß nicht, wie hieß das? Familienzusammenführung? Keine Ahnung. Dorothea jedenfalls wollte ihn heiraten, um ihn nachzuholen. Das gab Theater im Dorf. Die Eltern völlig aufgelöst, Bekannte und Freunde schimpften ihn Verräter. Und Ingo war überrascht, wer alles bei „Horch & Guck“ war. Sein Leben wurde Spießrutenlaufen. Ick wurde beobachtet... und einmal sojar übern Haufen jefahren. Der Typ war hinterher immer irgendwo in meiner Nähe. Stand immer mal mit verschränkten Armen plötzlich neben mir und grinste. Wissend, dass ick ihm nüschd konnte. Wenn wir uns über die Kirche trafen spürte man schon: Wir hatten alle Schiss.

Am 7. Oktober verbrannte mein Bruder die DDR- Fahne. Verdächtigt und jesucht haben sie aber mich. Im Haus, Stall, Jewächshaus...überall. Mein Vater hat jebrüllt wie ein Irrer und sie vom Hof jejagt. Der war nicht fein, dit sag ick dir... Ick war aber an die Ostsee jefahren, denn ick dachte mir schon, dass an diesem Tag wat losjeht. Und da fällt mir ein, dass wir damals nicht das Internat in Luckenwalde verlassen durften, weil man Angst hatte, die Leute würden sich zusammenrotten. Hatte ich glatt vergessen.

Meine Heirat wurde jenehmigt. Ick wollte ja jar nich heiraten. Hab se auf meine Art jeliebt, aber eben nich so. Am 21.Oktober 89 war es soweit. Und obwohl die Eltern tobten lud Ingo noch mal 100 Leute ein, bestellte den Pfarrer, Essen, DJ...Jeld spielte keene Rolle....hab ganz viel verschenkt. Konnte ja nüschd mitnehmen!

Wer nicht kam, war seine Braut. Der hatten sie an der Grenze aufgelauert, ihr nach langem Prozedere den Autoschlüssel abgenommen und sie über Nacht da stehen lassen. Sie erschien dann reichlich verspätet und musste mit Ingo noch fix zum Standesamt nach Luckenwalde rasen für die staatliche Trauung und den bescheuerten Zwangsumtausch, während die Gäste und der Pfarrer in der Kirche ausharrten. Das Amt machte um 12 Feierabend und Ingo war froh, dass er die Beamtin kannte, die die lange Rede wegließ und ihm per Stempel ihren Ehesegen gab. Und so konnte dann auch der Pfarrer seine Zeremonie abhalten.

Als am Abend 14 fremde Autos auf der Dorfstraße rumlungerten, ließ Ingo frühzeitig die Party leise ausschleichen. Er wollte keinen Zusammenprall der Gäste mit der Stasi riskieren.

Doro musste am nächsten Tag wieder los. Ingo folgte kurz darauf. Seine alte Wanduhr nahm er mit, einen Koffer und eine Nähmaschine für seine Frau. Er hatte vorher testhalber Pakete in den Westen geschickt mit Geschirr. Kam alles zerdeppert an und so ließ er es. Von seinem Begrüßungsgeld (100DM) kaufte er sich ein Hemd bei Lidl und lief dann 37km nach Hause, weil er kein Geld mehr hatte fürn Bus oder so... Von dem restlichen kaufte er nämlich 50 Postkarten, die er an seine Freunde in der alten Heimat schickte. Eine einzige kam zurück, gibt er enttäuscht zu. Mit der Ausreise is mir die erste Hälfte meiner Leute wegjebrochen.

Sie wohnten die erste Zeit in Landsberg. Doro arbeitete damals als Substitutin in einem Möbelkaufhaus. Dort wurde sie von den Bayern doch ziemlich schikaniert, wie Ingo erzählt und ich erinnere mich an die ersten furchtbaren Monate nach der Wende im Krankenhaus in Westberlin. Boah. Auch Ingo hat die erste Zeit den Kopf eingezogen, erlangte erst später sein Selbstbewusstsein zurück. Doro wechselte den Job, Ingo fing in einer Gärtnerei an.

Und wieder half die Kirche. Der Pfarrer, den Ingo aufsuchte, vermittelte ihm innerhalb von Stunden einen Termin für ne Wohnungsbesichtigung, die Anmeldung beim Amt und ein paar Jobideen. Der Vermieter (Chef bei der Sparkasse) war beeindruckt von Ingos frecher Klappe und Doros Gehaltsnachweis. Als Frau? So viel? Sie bekamen die Wohnung. Der Typ jehörte zur Hotte Volotte aus Landshut und reichte mich im Bekanntenkreis rum als Järtner. Selbst bei der Bürgermeisterfrau landete er. Die durfte ihm ja kein Schwarzgeld zustecken, sondern bezahlte mit Naturalien. Einmal entstand mit der Dame eine heftige Diskussion über den §218. Kannst dir ja vorstellen. Ick als Ossi und sie als bayrische Bürgermeisterfrau. Na irgendwann hab ick abjebrochen und jesacht: Mann! Ick bin hier der Järtner! Und dann lacht er wieder schallend.

Aber er verdiente wieder Geld. Als ick mir dit erste Fahrrad koofen konnte und losfuhr war dit...der Hammer. Ick war soo glücklich! Hauptberuflich arbeitete er nämlich bei einem Garten- Landschaftsbau. Der Chef setzte ihn in den LKW, obwohl ick noch nie son Ding jefahrn bin. Dann stand die Klappe hinten uff und die Türen... wat hat der immer jeflucht! Du SauPreuß, du Idiot!

In der Winterpause der Gärtnerei fing der SauPreuß an, zu kellnern. Sowat hatte ick ooch noch nie jemacht! Die haben mir dit Tablett volljestellt und KRACH, jing dit natürlich allet uffn Boden! Dazu kam, dass er die Bayern nicht verstanden hat. Und die laute Musik... Und ick wusste nich mal, wat O- saft is! Oder ick hab denen Wodka jebracht, obwohl die Wasser bestellt hatten. Da hab ick jesacht: Leute, wenn ihr nich deutsch mit mir redet, tuts mir leid. Jetzt trinkta dit Zeug und setzt euch eben zwee Stunden später ins Auto und fahrt uff euer Dorf!

Ich könnte mich hinhaun. Ingo war bald wieder der durchgeknallte bunte Hund. Erhielt ne Menge Trinkgeld und war an jedem Stammtisch eingeladen.

Von seinem ersten Ersparten leistete er sich Tickets für Tina Turner. Später den ersten Urlaub. Nach Tunesien. Dort lernten er und seine Frau Leute aus der Modebranche kennen und ne „Kosmetiktante“ aus München. Der Kontakt hielt über den Urlaub hinaus und Doro bekam ein Angebot für den Großhandel von Klamotten. Eigentlich wollten sie Doro auch als Model...letztendlich stand ick aber als Model uff der Bühne in janz Deutschland.

Und während wir zwischendurch mal wieder ein paar Kunden beraten denke ich: Puuh, jetzt kommen wir der Sache also langsam näher. ;-)

Bei einem Besuch in Berlin ergriff die Beiden Heimweh. Wir haben uff der Rücktour beede nur jeheult. Wir wolln zurück nach Berlin! stand für uns fest. Das hat dann zwar noch ein Jahr gedauert, aber sie kamen zurück. Arbeiteten beide im Großhandel für Klamotten. Ingo: Ooch, ick mit meene durchjelatschten Treter und keen Hochdeutsch, aber die geilsten Klamotten im Auto, weeßte? Er gab sich Mühe, bis ein Kunde meinte, er solle jetzt aufhören, so gestelzt zu reden, das nähme ihm doch keiner ab. Und dann hat er wieder gequatscht wie immer und seine Klamotten an den Mann gebracht wie kein Zweiter. Ick hab verkooft wie bekloppt.

Kollegen aus der Modelbranche rieten ihm, er solle sich an Helmut Lang (damals einer DER Showveranstalter!) wenden. Mit dem MUSS man gearbeitet haben! Ingo sprach vor, obwohl er eigtl mehr Lust hatte, Schauen selber zu organisieren, als zu laufen. Aber Hans, der Partner von Helmut mit einer großen Agentur konnte mich nicht ausstehen. Ick hatte verkackt in dem Moment, wo ick mit meinen kurzen Hosen da uffschlug.

Sie tourten durch ganz Deutschland, bereiteten Shows vor. Ingo arbeitete im Background mit für die ganz Großen. Ich erinnere mich aus seiner Erzählung an Namen wie Lagerfeld, Wella... Hongkong, Japan... Die erste Zeit war Ingo völlig konfus. Die haben mir den Ablaufplan in die Hand jedrückt und Nu mach mal! Da wurde ick öfter mal anjebrüllt. Ick wusste ja nich mal, wat n Visagist is. Achso, eener, der die Weiber anpinselt! Und als Udo Walz aufschlug, sagte ich. Ach, dit is der Frisör? Uiii, da hat der tief Luft jeholt und jefaucht: kommt der ausm Osten oder is der bekloppt???!!!

Beides, würd ich sagen. ;-) Heute lacht man drüber, aber das war sicher hart. Ingo jedenfalls erhielt erstmal Sprechverbot und lernte sein Handwerk. Da hab ick jelernt, wie man professionelle Schauen aufzieht.

Hinterher gings immer mit allen in eine wirkliche Spilunke. Das war nich mal ne Kneipe und man saß da auf Bierkästen und Feuerlöschern. Aber da traf sich die Szene. Eine bewegte Zeit. Übrigens kümmerte sich Ingo 10 Jahre um den Garten von Helmut in Italien! Modelnder Gärtner. Auch schön.

Leider kam das Geld immer nur stoßweise und so sah sich Ingo nach nem festen Halbtagsjob um. Aber kannste dir vorstellen, wie son Lebenslauf auf so nen Personalchef wirken musste? Tittenklatscher, Agitator, Friedhofsjärtner...Die müssen jedacht haben, ick hab nich alle am Sender. Zu May & Edlich bin ick persönlich hinjefahren, ohne vorher Papiere einzureichen. Als ick da aufschlug waren alle von meiner Erscheinung beeindruckt und der Chef hat mir mehrmals den Stuhl zurechtjerückt. Erst zum Schluß des Gesprächs hab ick ihm meine Papiere jezeigt. Da hat er jekiekt wien Auto. Und hätten se mir so ooch einjestellt? Nein. Hätte er nicht. So aber bot er ihm ne Vollzeitstelle an, die Ingo nicht wollte.

Dafür landete er im Modecenter- Großhandel, bekam ne Liste von 1000 Kunden und arbeitete ab. Ick hab Umsatz jemacht wie verrückt.

Jetzt musste ich mal nachrechnen. Hast du nicht gesagt, du bist seit 23 Jahren mit Benoit zusammen? (Sprecht mir ja den Namen ordentlich aus! französische Aussprache: [bənˈwa])

Achso...ja. Seit 1996. Ingo lacht. Im Juni, fügt Benoit liebevoll hinzu. In Leipzig. Da war der Franzose auf einem Zwischenstopp ( Er arbeitete als Steward und das noch bis 2007). Benoit ist der ruhige Part in der Beziehung, würde ich meinen. Ich glaub, der Benoit erdet dich immer bissl, kann das sein? frage ich Ingo. Ooooh ja, wir ergänzen uns super. Wenn ich mal richtig aufdrehe, holt mich Benoit wieder runter und sagt: Jetzt ist aber mal Piano! Wenn das jemand mit diese franzosiiiesche Akzant schpriescht- kannst du nur schmelzen. ;-)

Ok. Weiter. Mein Outing hatte ich schon vorher. Nach der Wende war ja alles offen, und in Berlin, vor allem auch in der Modebranche war das alles völlig normal. Ich hatte das natürlich schon in mir und jeder würde heute sagen: Der war als Kind schon irgendwie schwul. Keine Ahnung. Meine Großmutter ist mal fast vom Glauben abgefallen, als sich Rock Hudson outete. Hat die sich aufgeregt! SO ein schöner Mann! Schämen sollte der sich! Ingo bekannte sich also erst nach Omas Tod.

Na dit war n Drama! Ingo fasst sich an die Stirn. Vor allem für Doro war das schlimm. Sie war fassungslos. Ingo ging mit ihr zum Psychologen. Aber der meinte, er wäre ganz normal. Na das würde ich jetzt nicht unterschreiben werfe ich ein und Ingo lacht laut.

Aber ja, das war sicher hart. Für sie. Für ihn. Ick stand plötzlich alleene da. Die andere Hälfte meiner alten Freunde brach dann ooch noch weg, Verwandte jenauso. Meine Mutter brauchte 8 Jahre, um halbwegs damit klarzukommen. Und obwohl ick schon mit Benoit zusammen war, fuhr ick mit Dorothea noch zu Familienfeiern.

Dorothea und Ingo eröffneten trotzdem eine Edelboutique im Berliner Bötzowviertel. 10 Teile in nem 19qm- Laden. Man stirbt in Schönheit, weißte? Ingo wusste, das kann nicht funktionieren. Also aktivierte er seine alten Kontakte und holte Kommissionsware ran. Ist eingeschlagen wie Sau, sagt er, und: Ich hab Wintermäntel bei 30Grad verkauft.

Dann wurde saniert ringsrum. Wir sind mit nem Presslufthammer einjeschlafen und wieder uffjewacht. Als es hieß, es entstehen noch Tiefgaragen unter den 6 Hinterhöfen sind sie geflüchtet. Sie eröffneten die erste feine Boutique am Kollwitzplatz. Benoit hat das schon mitfinanziert. Ein schiiiicker Laden! schwärmen beide.

Aber mit Doro ging das nicht mehr. Sie driftete immer mehr in die Esoterikschiene ab. Ick hätte mich damals gleich richtich trennen müssen. Privat und geschäftlich. Stattdessen hab ick ihr allet zujestanden, wegen meines schlechten Jewissens. Dit war falsch. Ingo klinkte sich aus, fuhr zur Kur. Hinterher hab ick nur noch rumjebrüllt im Laden. Sie hatte den einfach in kürzester Zeit runterjerockt! Ick bin dann ausjestiegen.

Benoit und Ingo mieteten einen eigenen Laden an in der Prenzlauer Allee. Lief erst komisch an und ick war richtich enttäuscht, aber dann gings los! 200-300 neue Kunden pro Jahr! Selbst die Finanzkrise machte uns nix aus!

Eines Tages saß Ingo versonnen im Fitness- Studio. Bis ihn einer der Trainer ansprach. Alles ok bei dir? Und Ingo, ohne aufzusehen: Wir machen hier ne Modenschau! Gesagt, getan. Februar 2009. Das war die erste in einer langen Reihe in verschiedenen Locations. Bei der letzten dort im Studio kamen innerhalb von ner halben Stunde 500 Leute.

Irgendwann besuchten die Beiden Freunde in der Prignitz. Wir kamen von 100 direkt auf 0, so entspannend fanden wir das. Noch auf der Rückfahrt meinte Benoit. Ich will auch ein Haus. Und Ingo: Ick nich. Aber Benoit ließ nicht locker und 14 Tage später kauften sie ein Haus. Ick war erst skeptisch...Hoppenrade...Fachwerk...Aber wir haben es jesehen und uns sofort verliebt. Blauäugig bezogen sie das Haus, ohne vorher eine Hand angelegt zu haben. Und während Ingo den Transporter wegfuhr stand Benoit in der Hütte, roch zum ersten Mal den Mief der Vorbesitzerin, sah 100e Spinnen und schlug die Hände überm Kopf zusammen. Was habe iiisch nur getaaan?

Als „Schwule“ auf so nem Dorf muss man sich vorstellen bei den Nachbarn dachten sie sich kurz drauf und zogen von Haustür zu Haustür. Natürlich sind alle ihrem Charme erlegen. Hätte mich auch gewundert.

Irgendwann kam eine der Nachbarinnen und äußerte den Wunsch, hier auch mal so eine Modenschau zu veranstalten. Hier? Aufm Acker? Ingo war entsetzt. Das geht doch hier nicht! Und Mensch, ick bin in die Pampa jezogen, um meine Ruhe zu haben! Jetzt soll ick schon wieder HalliGalli machen??? Ich könnte mich schon wieder kringeln.

Aber ja, sie organisierten eine Modenschau. Der Kulturverein war echt hartnäckig. Sie fuhren also mit dem Laster raus auf den Acker. Ein Modelscout suchte Mädels aus der Umgebung. Und? Es wurde ein Riesenerfolg. Männer starrten mit offenen Mündern ihre Frauen an, Mütter ihre Töchter. Und hinterher haben die alles gekauft. Das war der Wahnsinn. Wir haben 5 Stunden nur kassiert!

Naja, das könnten wir ja noch mal machen irgendwann, war das Resümee. Und sie machten es noch mal. Denn das nächste Dorf fragte an. Und das übernächste. 12 Modenschauen allein in 2018! Wittstock, Dranse, bis Meck Pomm reisten sie: Stavenhagen, Solzow. In nem Speicher, Gutshaus, Gemeindehaus, Schule... Kannste dich an die Feier der Feuerwehr erinnern? lacht Ingo. Oh mein Gott, ja. Benoit leiert die Augen und winkt ab. Schreeecklisch war das! Wir sind 3x mit dem LKW stecken geblieben! Und Ingo erklärt: _Es hatte so jeregnet, dass die Feuerwehr jar nich mitfeiern konnte, weil se Keller auspumpen mussten! _Herrlich.

Berlin war nur noch anstrengend und nervig. Die Luft war raus. Und es entstand die Überlegung, wo man in der Nähe vom Haus einen Laden eröffnen konnte. Die Beiden fuhren über Land. Aber unsere Kreisstädte sind alle...nun ja, ihr wisst es selber. Tot. Nicht tot...aber kränklich. Wer traut sich da schon, einen Laden zu eröffnen? Benoit stieß auf eine Anzeige bei ebay. Und wusste sofort: Das isses. Ein Laden in Neuruppin. Ingo ließ sich überreden und eines Abends auf dem Weg ins Wochenende machten sie einen Abstecher nach Neuruppin. Ingo war baff. Minusgrade, dunkel, Märzabend...aber es waren Menschen auf der Straße! Sie liefen einmal durch die ganze Stadt, stellten sich vor den Laden...und vereinbarten für den nächsten Montag einen Termin mit dem Vermieter. Benoit hatte Recht. Das isses.

Bis die Herbstkollektion kommt, wollten sie fertig sein. Den Farb(Ton) für die Inneneinrichtung gab eine kleine bunte Stehlampe an, die an einer Straßenecke im Prenzlberg auf sie wartete. Kleine Sessel gesellten sich dazu. Einen Kaffee bekommt hier fast jeder, wenn ich das richtig mitbekommen habe.

Tja. Und nun sind sie da. Seit September 2018. Wir haben noch keinen Tag bereut, sagen sie. Der Laden läuft super. Manchmal denke ich abends: Mein Gott, was iist hiier bloß looos? Ach ich liebe Benoits Akzent! Bling Bling ! Und Ingo sagt ehrfürchtig: Wie sollten uns vor den Neuruppinern verneigen. Das ging los mit der Eröffnung...blieb in der Woche darauf so...und bis heute. Wenn morgens um 10 Leute vor dem Laden stehen sag ich noch immer verwundert: Was is denn mit euch? Es ist 10Uhr! Sowas kannte ich in Berlin nicht. Tja, der frühe Vogel fängt den Wurm!

Und eure Mode? Jetzt lasse ich doch mal meine Augen kreisen...Überwiegend italienische Mode für Freizeit, Business oder den Abend. Für bestimmte Anlässe besprechen wir uns mit befreundeten Designern in Berlin und lassen das produzieren. Einige Designs kommen auch aus Paris, die wir im Großhandel ordern. Und wenn die Mode dem Zeitgeist entspricht sind wir natürlich offen für alle Länder.

Sie fühlen sich in Neuruppin willkommen. Ich würde sogar ein Stück weitergehen und sagen: Sie wurden erwartet. Frische, kreative, begeisterungsfähige Herren im besten Alter, die Schwung und Sonne UND geile Klamotten bringen. Hallo???

Auch in dem Verbund Wir die Innenstadt sind sie freudig aufgenommen worden. Verständlich. Ich möchte da gern was voranbringen, sagt Ingo. Was nutzt es mir, wenn ich nur an meinen Laden denke! Alle müssen mitziehen, damit die Stadt belebt bleibt. Stimmt.

Ingo sagt, er habe es noch nicht in den Tempelgarten geschafft und an andere Hotspots der Stadt. Sie kennen noch lange nicht alles. Aber ich möchte behaupten: DIE BEIDEN kennt man umgekehrt sehr wohl. Am Wochenende ziehen sie auch mit der Wohnungseinrichtung endgültig nach Neuruppin. Adios Berlin. Glückwunsch Neuruppin!

Und natürlich habe ich dann auch noch mal zugeschlagen. Ich hatte mir fest vorgenommen: 1 Teil! Höchstens 2! Naja es wurden 3. Irgendwann habe ich zu Benoit gesagt: Hör auf jetzt! Geh bitte weg! Er hat sich lachend getrollt. Es ist unglaublich. Ich könnte mich totkaufen. Die Beiden verstehen es aber auch sooo großartig, Dinge zusammenzustellen, ehrlich und trotzdem liebevoll zu lenken...geduldig, witzig, charmant. Hier findet JEDE und in JEDEM Alter was. Ehrlich. Und mir fällt wieder ein, wie gern ich früher mit meinem „schwulen“ Freund shoppen gegangen bin. Das war das Beste ever.

Manchmal bin ich mir gar nicht sicher, ob es immer so klug ist, seine Geheimtipps weiterzugeben. Aber was solls. ;-) Mädels, Ladies: Auf nach Neuruppin! Die- Fr 10-18 Uhr Sa 10-14 Uhr

Und vormerken: Nächste Modenschau im Hangar mit Aftershowparty gibt es leider erst wieder im April 20. Vorher aber wird es höchstwahrscheinlich (Die Planung ist noch nicht abgeschlossen) eine Modemesse in der Pfarrkirche rund um Konfirmation, Jugendweihe, Abi geben. Und einzig fester Termin für dieses Jahr: 21. September 2019: Portofino Neuruppin: Menü- Modenschau- Aftershowparty und Verkauf! (Kartenvorverkauf!)

Adresse: La Strada/ Präsidentenstraße 8/ 16816 Neuruppin Telefon: 03391-3469846 Facebook: La Strada italienische Mode